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Konzert Herzensstern
27.12.2021
Performance von Sasha Lurje und Joshua Camp

Mit der Europäischen Gesellschaft e.V. im Rahmen des Festjahres 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Ermöglicht durch Fördermittel des Bundesministerium des Innern und Heimat

Über die Musiker,  Hartsshtern & 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Olivier Milhaud, Neffe von Darius Milhaud, gewann mit dem Sutzkever Project 2017 den Ersten Preis des Amsterdamer Internationalen Jüdischen Musikfestivals und den Mira-Rafalowicz-Preis für die beste künstlerische Darbietung jiddischer Sprache und Kultur. Er gab den Versen von Sutzkever neues Leben.
Inspiriert durch die Synagogalliturgie, beleben die Vertonungen von Olivier Milhaud jiddische Verse aus Vergangenheit und Gegenwart. Sie sprechen die Sprache der musikalischen Klassik der Gegenwart. Zwei weitere Gedichte „Herzensstern“ („Hartsshtern“) aus dem Programm, die Olivier Milhaud 2020 und 2021 vertonte, stammen von Philipp Ammon. Ammon gewann 2020 mit dem unveröffentlichten Einzelgedicht Città eterna den Literaturpreis des Italienischen Kulturinstituts Neapel und der internationalen Poesie- und Literaturzeitschrift Nuove Lettere. Sasha Lurje wurde in Riga, Lettland, geboren und singt seit ihrem dritten Lebensjahr. Seit 2003 erforscht sie Stile und Repertoire des traditionellen jiddischen Gesangs und untersucht dabei säkulares und religiöses Gesangsrepertoire. Sie ist Mitbegründerin des Berliner Jiddischen Musik-Festivals Shtetl Neukölln und dem Yiddish Summer Weimar schon als Künstlerin und Dozentin verbunden.

Abraham Sutzkever wurde im Gouvernement Wilna geboren, wurde 1915 mit der Familie nach Sibirien deportiert, und kehrte 1920 ins polnische Wilna zurück, wo er erst die traditionelle jüdische Schule, dann das polnisch-jüdische Gymnasium und schließlich als freier Hörer Vorlesungen an der Stefan-Batory-Universität besuchte. Er wurde Mitglied der von Max Weinreich gegründeten Pfadfindergruppe „Bin“ und belegte am von Weinreich geleiteten Jüdischen Wissenschaftlichen Institut (YIVO) Kurse über jiddische Literatur. Er gehörte zur avantgardistischen Künstlergruppe Junges Wilna („Jung Wilne“). Nach der Eroberung von Wilna durch die Wehrmacht 1941 lebte er im Wilnaer Ghetto. Er war Mitglied der 1942 gegründeten Vereinigte Partisanen-Organisation („Fareinikte Partisaner Organisatzije“) und rettete mit einer Ghettobrigade Handschriften (darunter Briefe von Tolstoi und Gorki und Manuskripte von Scholem Alejchem) und Bücher, die vernichtet werden sollten und jetzt die Sutzkever-Kaczerginski-Sammlung des New Yorker YIVO-Institut bilden. 1943 gelang es ihm mit seiner Frau, in die Naroczer Wälder zu fliehen. 1944 wurde er nach Moskau geflogen, wo er auf dem Dritten Plenum des Jüdischen Antifaschistischen Komitees auftrat und sich mit Pasternak traf. Er schrieb einen Beitrag zum von Ehrenburg und Wassili Grossman herausgegebenen Schwarzbuch über den Genozid an den sowjetischen Juden und trat 1946 als Zeuge bei den Nürnberger Prozessen auf und nahm am ersten Zionistischen Nachkriegskongress in Basel teil, wo er sich mit Golda Meir traf. Mit ihrer Hilfe wanderte er 1947 illegal nach Palästina aus und lebte seither in Tel Aviv. Als Mitglied des PEN-Clubs wurde er im selben Jahr Sprecher für jiddische Literatur. Als Kriegskorrespondent nahm er 1948-49 am Unabhängigkeitskrieg teil. Mit Hilfe der Histadrut, des Gewerkschaftsbundes, gründete er 1948 die Zeitschrift Di goldene kejt („Die goldene Kette. Symbol für das Überleben des jüdischen Volkes“) für Literatur und Essayistik in jiddischer Sprache, die er bis 1995 herausgab. 1985 erhielt er den Israelpreis für jiddische Literatur. Als Ehrenbürger von Tel Aviv starb er 2010 im 97. Lebensjahr. In diesem Jahr entdeckte Olivier Milhaud die Schönheit der Gedichte von Sutzkever und begann sie zu vertonen. Es sind Verse aus der Kindheit des Dichters, als ihn Licht und Natur Sibirien berührten, über das Ghettos, als er in die Finsternis eintauchte, und aus Israel. Sie zeigen Schönheit und Pracht der Schöpfung, die Schrecken der Welt und Liebe, die Sutzkever in seinem Jahrhundertleben erfuhr. 

Festjahr 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland - Die Folgen eines Edikts
Als Kaiser Konstantin vor 1700 Jahren die Existenz jüdischen Lebens in der Hauptstadt der Germania secunda (vor Diocletian Germania inferior) Colonia Claudia Ara Agrippinensium am 11. Dezember 321 in einem Edikt beurkundete, in welchem er die Berufung von Juden in Ämter gestattete und die Reparatur einer Rheinbrücke durch einen Kölner Juden namens Isaac ermöglichte, gab es noch kein deutsches Land oder eine deutsche Sprache. Was es aber bereits damals schon gab, war ein Zusammenleben von römischen zivilen und militärischen Kolonialverwaltern, ihren örtlichen Hilfstruppen, jüdischen, germanischen und keltischen Bewohnern der Kolonialstädte entlang des Rheins und ihres Hinterlandes und entlang der durch die Römer angelegten und ausgebauten Verkehrswege.

Es ist davon auszugehen, daß die Juden bereits im ersten nachchristlichen Jahrhundert – insbesondere nach der zweiten Tempelzerstörung im Jahre 70 – mit den Römern in die Germania inferior zugewandert sind. Dort trafen sie auf Reste keltischer Eburonen und die von dem Schwiegersohn des Augustus Marcus Agrippa im Jahre 18 v. Chr. auf dem linken Rheinufer angesiedelte Ubier, die auf seinen Befehl auf einem Hügel am Rheinufer eine Siedlung errichtet hatten, deren Namen die Stadt Köln als oppidum ubiorum bis zur Erhebung zur Veteranenkolonie Colonia Claudia Ara Agrippinensium im Jahre 50 n. Chr. zunächst trug. Die Ubier galten bereits Cäsar zur Zeiten des gallischen Krieges durch Nähe zum Rhein und die sich daraus ergebenden Händlerkontakte als kultivierter als die anderen Germanen.

Als die römische Reichsgrenze im Jahre 352 zusammenbrach, gesellten sich ihnen im vierten Jahrhundert noch die Franken bei, die 355 Köln eroberten und 388/89 den niederrheinischen Limes durchbrachen, um die römischen Kaiser in diesem und im darauffolgenden Jahrhundert darauf als foederati vor Plünderern zu schützen. Nach Zusammenbruch der römischen Herrschaft gründeten sie das bedeutendste romanisch-germanische Nachfolgereich im Westen. Im von ihnen gestifteten fränkischen Kulturraum, der sich im Hochmittelalter bis weit nach Osten aufspannen sollte, galt den Christen die Lehre von den drei heiligen Sprachen (tres linguae sacrae sive sapientales – Griechisch, Latein und Hebräisch), in den Gott zu preisen sei, während Juden Gott in der heiligen Sprache der Väter (Hebräisch und Aramäisch) lobten.

Im Gegensatz zur heiligen Sprache des Gotteslobes, der Gelehrten und des Klerus stand eine Laien- und Volkssprache, die man im 9. Jahrhundert als „diutiscus“ zu bezeichnen begann und als deren Schwestersprache zur gleichen Zeit die Sprache entstand – das Iwritaitsch, Judendeutsch oder Jiddisch, welches im Südwesten des heutigen Deutschlands das Oberdeutsche mit dem überlieferten Sprachgut aus dem Romanischen, Aramäischen und Hebräischen verquickte und später nach seiner Verbreitung im Osten Elemente des Slawischen aufnahm. 

Im Iwritaitsch, Judendeutsch oder jiddischen Idiom läßt sich die Kulturgeschichte des Raumes ablesen, der sich sich bis ins 20. Jahrhundert bis weit ins östliche Europa erstreckte und dessen zartes verbindendes Band die Sprache war, die zwar in ihrem Entstehungsraum bereits in der Neuzeit zugunsten der Standardsprache wieder zurückgedrängt wurde, aber durch ihre Rückwirkungen auf die Umgebungssprachen der zahlreichen Mundarten und Gruppensprachen bis heute in dem Gebiet sprachlich anwesend ist, in dem wir in diesem Jahr das tausensiebenhundertjährige Dasein jüdischen Lebens feiern.

Das Idiom ist gewachsener Ausdruck einer Symbiose, deren zarte Anfänge in dem Bittschreiben des Kölner Stadtrats an den römischen Kaiser sichtbar werden. Es bildete zunächst eine Brücke zwischen dem romanischen und dem germanischen, dann zwischen dem germanischen und slawischen Sprachraum. 

Olivier Milhaud, der 2017 den Mira-Rafalowicz-Preis für die beste künstlerische Darbietung der jiddischen Sprache erhielt, und Philipp Ammon, dessen Verse in „Grine Medine“ (Niederlande) und „Jiddischland“ (Israel) erscheinen, wollen in ihrem Konzert die sprachliche Tochter des tausensiebenhundertjährigen jüdischen Lebens in Deutschland ehren und die Hörer einladen, das Haus einer Sprache zu betreten, dessen Grundstein der Stadtrat von Köln legte, als er vor 1700 Jahren den Kaiser Konstantin bat, Juden in den Rat aufnehmen zu dürfen, um gemeinsam eine Reparatur einer Rheinbrücke ausführen zu können. Das sprachliche Band, das in der Folgezeit entstand, ist nicht abgerissen. Die Brücke über den Rhein soll auch im Jubiläumsjahr erneuert werden.
 
Durch das Konzert wird jüdisches Leben im Festjahr 2021 in Deutschland sichtbar und klanglich erlebbar. Das Erleben der Schönheit einer Kultur ist das sicherste Mittel gegen ihre Anfeindung.
 

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